Die Frage des Gesetzeslehrers, was das wichtigste Gebot sei, sollte Jesus auf die Probe stellen. Die Pharisäer hatten damals durchaus eine gewisse Rangfolge der Gesetze. Das Gebot, Gott mit ganzem Herzen, mit allem Denken und ganzer Seele zu lieben, gilt im damaligen Judentum als das zentrale Gebot. Jesus erweitert allerdings sofort um die Nächsten- und Selbstliebe.
Er (Jesus) antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Matthäusevangelium 22,37-39
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das dreifache Liebesgebot Jesu bildet als wichtigstes Gebot ein Zentrum christlicher Ethik und Moral. Wenn wir uns damit genauer auseinandersetzen wollen, müssen wir allerdings hinten anfangen.
Gebot der Selbstliebe
Den Anfang macht hier die Selbstliebe. Sie ist besonders schwierig, weil sie im Christentum zu Unrecht einen sehr schlechten Ruf besitzt. Wir denken bei Selbstliebe sofort an Egoismus und Selbstverliebtheit. Hat das beim wichtigsten Gebot etwas verloren? Doch die Wahrheit ist: Selbstliebe ist Voraussetzung sowohl für die Nächstenliebe als auch die Gottesliebe. Wir müssen nur darüber nachdenken, was mit Selbstliebe gemeint sein könnte. Sie bedeutet – so wie ich sie verstehe – die Gewissheit, selbst geliebtes Kind Gottes zu sein, seine geliebte Tochter oder sein geliebter Sohn. Wenn ich mich selbst liebe, mich selbst annehme, dann habe ich keine falschen Bilder mehr über mich im Kopf, sondern sehe mich selbst mit den Augen Gottes. Ich sehe mich als Abbild Gottes. Ich erlebe mich als Tochter oder Sohn Gottes als ein geliebtes Wesen. Diese Liebe Gottes macht mich fähig mich selbst mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen. Ich brauche mich nicht mehr besser darstellen, muss nicht mehr um mein Selbstbewusstsein kämpfen und andere deswegen klein machen.
Gebot der Nächstenliebe
Wenn ich mich von Gott auch mit meinen Schwächen geliebt und angenommen weiß, dann kann ich mich auch für andere Menschen öffnen und ihnen begegnen. Aus dem Kampf um Ansehen und Rang wird plötzlich Begegnung auf Augenhöhe. Nur in dieser Begegnung auf Augenhöhe können wir vernünftig von Nächstenliebe sprechen.
Die Nächstenliebe haben wir schon eher im Kopf, wenn wir vom wichtigsten Gebot sprechen. Doch bedarf sie eben der Selbstliebe, damit sie geerdet bleibt. Wenn wir diese beiden auseinanderdividieren, laufen wir Gefahr, dass die Nächstenliebe zur Aufopferung und Selbstverleugnung führt. Dann allerdings beginnt die Nächstenliebe verzweckt zu werden. Die Nächstenliebe wird zur Quelle des eigenen Selbstbewusstseins und damit besteht die Gefahr, dass wir zu klammern beginnen, weil wir jemand brauchen, den wir „be-lieben“ können, weil sich darin unser Selbstwert definiert und wir uns ansonsten sinnlos vorkämen.
Damit Nächstenliebe funktionieren kann, setzt sie die Selbstliebe voraus.
Gebot der Gottesliebe
Das Gebot der Gottesliebe gehört sicherlich zum Zentrum sowohl jüdischen als auch christlichen Glaubens. Beide Religionen stimmen darin überein, dass sie das wichtigste Gebot sei. Doch auch hier gilt wieder das gleiche Problem wie wir es schon bei der Nächstenliebe gesehen haben: Ohne Selbstliebe und Nächstenliebe kann es keine Gottesliebe geben. Wenn ich keine Selbstliebe habe, jedoch behaupte Gott zu lieben, dann sich die Frage, ob diese Liebe zu Gott nicht eine Schwärmerei ist, die bei ersten Anzeichen von Problemen sofort verflogen ist. Wenn ich mich als Geschöpf Gottes, als seine Tochter oder Sohn verstehe, dann weiß ich mich von ihm geliebt und diese erlebte Liebe führt zunächst zur Selbstliebe und schließlich zur Gottesliebe als Antwort auf diese Liebe.
Gottesliebe ohne Nächstenliebe? Immer wieder höre ich von Menschen, die mir erzählen, wie sehr sie Gott lieben, aber mit ihren Mitmenschen klappt das irgendwie nicht. Kann es Gottesliebe tatsächlich ohne Nächstenliebe geben? Ich denke, wenn ich in meinem Nächsten ein Kind Gottes erkenne, seine geliebte Tochter oder seinen geliebten Sohn und ich mich tatsächlich selbst liebe, werde ich auch meinen Nächsten lieben, ansonsten würde ich ja meine Liebe zu Gott verraten.
Eine Gottesliebe ohne Nächstenliebe kann ich mir nicht vorstellen.
Das wichtigste Gebot?
Für mich gehören diese drei Liebesgebote untrennbar zusammen. Eines ist ohne das andere unmöglich. Ich weiß also nicht, ob man von einem wichtigsten Gebot sprechen kann. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass diese drei Gebote (Selbstliebe, Nächstenliebe, Gottesliebe) das Fundament einer christlichen Moral darstellen. Wenn uns diese Liebe gelingt, werden wir auf jeden Fall die Welt verändern, weil wir durch unser Leben und Handeln zu Botschaftern des Reiches Gottes in der Welt werden.