0:15 Uhr – alleine im Hamsterrad
Meine Uhr biept. Sie möchte mich erinnern, dass ich endlich den Computer ausschalten und ins Bett gehen soll. Schließlich bin ich doch schon seit 6:30 Uhr auf und hetze von einem Termin zum nächsten. Jetzt am Abend – vor dem Schlafengehen – habe ich mich noch rasch an den Computer gesetzt, um die emails zu checken und einige organisatorische Vorbereitungen für morgen zu treffen. Aus einem kurzen Checken der mails sind schließlich mehr als zwei Stunden geworden und meine Uhr mahnt mich – damit ich zumindest sechs Stunden im Bett verbringe – endlich Ruhe zu geben.
0:30 Uhr
Beep! – Nun gehorche ich doch. Schließlich soll ich ja morgen Früh wieder ausgeschlafen und fit in den Tag starten, denn ein Ende der Arbeit ist noch lange nicht in Sicht. So wird es morgen sicherlich wieder ein 16 Stunden Tag. Völlig ausgelaugt falle ich ins Bett und es dauert keine fünf Minuten, bis ich endlich einschlafe. Wenigstens etwas, denke ich noch, an Schlafstörungen leide ich Gott sei Dank nicht. Ich könnte ewig schlafen!
Der nächste Tag
Doch kaum bin ich endlich eingeschlafen, höre ich auch schon in einiger Entfernung ein seltsames Surren. Komisch, das kann doch nicht schon der Wecker sei, ich bin doch gerade erst eingeschlafen. War ich so weggetreten, dass mein Zeitgefühl mir einen derartigen Streich spielt oder habe ich bloß derart Angst zu verschlafen, dass ich mir das Geräusch des Weckers nur einbilde? Da! Es hat aufgehört, endlich Ruhe, endlich Schlafen.
Halt, da ist es schon wieder! Das gibt es doch gar nicht! Langsam taste ich mit meiner Hand nach dem Wecker, um ihn ruhigzustellen. Doch meine Hand greift ins Leere. Komisch, was meine Sensoren an der Hand da wahrnehmen, das passt eigentlich überhaupt nicht zu meinem Bett, ja nicht einmal zu meinem Zimmer. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass meine Hand auf Gras, nein Stroh, tappst, um nach dem Wecker zu suchen. Was ist da los, ich bin doch nicht in einem Zelt oder gar outdoor eingeschlafen? Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass ich mich ins Bett gekuschelt habe, bevor ich eingeschlafen bin. Irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen.
Langsam, ganz langsam öffne ich schließlich die Augen, um mich zu orientieren. Auch mein Gehör wacht schön langsam auf und mir scheint, als wäre mein Wecker viel weiter weg als sonst. Vielleicht kann ich ihn ja deshalb nicht erreichen. Doch wenn mein Wecker so weit weg ist, wo bin dann ich? Schön langsam beginnen meine Augen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und ich beginne einige Umrisse im Schwarz der Nacht zu erkennen. Zumindest meine ich das, denn was sich hier in der Dunkelheit langsam beginnt abzuzeichnen, macht so absolut gar keinen Sinn. Irgendwie scheine ich auf dem Boden zu liegen und die Einrichtung, auch wenn sie so aussieht, als wäre ich in meinem Zimmer, ist einfach viel zu groß. Alles wirkt ein bisschen so, als wäre ich in einem Zimmer für Riesen gelandet. Einfach aufstehen, ab unter die kalte Dusche, dann wird wieder alles normal.
Im Kopf gehe ich noch einmal die Termine für den heutigen Tag durch. Das erste Treffen beginnt um 7:30 Uhr. Eine kurze Besprechung mit einer Lehrerin bezüglich eines Gottesdienstes, dann um 8 Uhr die Messe, bevor es schließlich nach Linz zu einem Seminar geht. Hoffentlich gibt es keinen Stau, ansonsten kann das alles sehr knapp werden. Die Mittagspause muss ich nutzen, um im Behelfsdienst einige Anschaffungen zu erledigen. Außerdem soll ich in der Mittagspause auch noch einige Krankenbesuche in den Spitälern der Landeshauptstadt erledigen. Auf den Wegen werden sich hoffentlich noch einige Telefonate ausgehen, damit wir die Kandidaten für den neuen Pfarrgemeinderat bis zum Wochenende beisammen haben. Nach dem Seminar am Nachmittag sind noch einige Sitzungen, die ich jetzt gar nicht so genau weiß, aber schließlich habe ich das alles ja in meinem Smartphone gespeichert.
So, jetzt geht’s aber los, schließlich soll der Tag ja nicht schon mit Verspätung anfangen. Langsam richte ich mich auf und versuche nach meiner Brille zu greifen. Doch nicht nur dass ich die Brille nirgendwo sehen kann, und sooo schlecht sehe ich dann auch wieder nicht, auch nicht ohne Sehhilfe. Aber was ich dabei erblicke, lässt mich hochschrecken. Selbst wenn ich die Brille tatsächlich gefunden hätte, könnte ich sie mit dem Ding, das sich bewegt, wenn ich nach etwas greifen möchte, nicht nehmen. Was ich hier sehe, ist eigentlich keine Hand, sondern etwas, das so aussieht, wie eine Art “Greifer”.
Erst nach und nach begreife ich, dass dieses “etwas” zu mir gehört. Es ist fast unmöglich, mit nur einer sog. “Hand” irgendetwas zu greifen, sondern ich brauche fast immer beide “Hände”. Durch diese Beobachtung aufgeschreckt, bin ich natürlich mittlerweile hellwach. Ängstlich, blicke ich ganz langsam an meinem Körper hinab. Was ich nicht für möglich gehalten habe, was ich zwar mittlerweile befürchtet hatte, wird mir immer mehr bewusst. Als ich an meinem Körper hinabblicke, muss ich feststellen, dass es kein menschlicher Körper ist, sondern er hat viel mehr Haare und ist außerdem viel dicker. Was ist geschehen? Gestern als ich ins Bett ging, war doch noch alles normal! Erst bei genauerem Hinsehen, stelle ich fest, dass ich hier wohl auf den Körper eines Goldhamsters blicke.
Der Schock sitzt tief, vor allem: Er lässt auch nicht nach. Mittlerweile sind sicherlich 15 Minuten vergangen und ich blicke immer noch ungläubig auf meinen “neuen” Körper, auf einen Hamsterkörper. Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Ich träume doch sicherlich das alles nur. Einfach wieder hinlegen und weiterschlafen. Wenn ich wieder aufwache ist wieder alles beim Alten. Doch das mit dem Hinlegen funktioniert gar nicht so einfach. Erst nach einiger Zeit gelingt es mir, wieder einzuschlafen. Die Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, verstummen schön langsam.
Einige Stunden später …
Ich werde endlich einmal wach, ohne von einem Wecker geweckt zu werden. Ein tolles Gefühl, und der Traum der vergangenen Nacht hat auch von seinem Schrecken verloren. Alles ist wieder normal, so wie es sein soll! Doch halt, nein! Nachdem ich mich einmal so richtig durchgestreckt habe, um endlich ganz wach zu werden, entdecke ich es: Ich stecke immer noch im Körper des Hamsters.Und jetzt im Tageslicht wird auch deutlich, dass sich die Umgebung nicht nur anfühlt als wäre es Stroh, sondern dass es tatsächlich so ist.
Panik macht sich breit in meinem Kopf!! Ich versuche mich zu beruhigen: “Das gibt es ja gar nicht! Du spinnst! – Ganz ruhig, niemand soll merken, dass etwas nicht in Ordnung ist!” Langsam richte ich mich auf und versuche, ins Bad zu gehen. Doch was ist das? – Sobald ich mich aufrichte, falle ich vorwärts auf alle vier. So viel habe ich gestern allerdings wirklich nicht getrunken, dass ich nicht einmal mehr das Gleichgewicht halten kann. Was war eigentlich noch einmal gestern? Ein Filmriss; vielleicht doch zu viel getrunken? Es heißt ja immer, wenn man zu viel Alkohol trinkt, beginnt man, weiße Mäuse zu sehen. Vielleicht ist das bei mir etwas ähnliches und ich sehe nicht den Hamster, sondern ich sehe mich als Hamster? Eine optische Täuschung also! Das wird es sein.
Ich werde einfach im Büro anrufen, dass ich heute nicht kommen kann, weil ich krank bin. Das kann ich doch unmöglich jemandem erzählen. “Ich sehe mich selbst als Hamster!” Unglaublich! Es gibt Einrichtungen für solche Menschen!! Das wird sich aber sicher bald wieder legen, bloß nicht auffallen. Dann krabble ich eben auf allen Vieren in das Bad und unter die Dusche, die wird mir sicherlich gut tun.
Mann, habe ich einen Hunger! Ich glaube ich suche mir noch etwas zu futtern, bevor ich unter die Dusche springe. Mmh! Ich rieche hervorragendes Essen, also einfach der Nase nach. Ist doch gut, dass wenigstens noch etwas funktioniert!! Nach einigen Sekunden habe ich endlich die Quelle des Duftes erreicht, aber ich bin nicht etwa bei Schinken und Frühstücksei gelandet, sondern bei Getreide. Ich habe gar nicht gewusst, dass Getreide einen derartig anziehenden Duft versprühen kann. Aber was soll’s, der Hunger ist groß und in der Not frisst der Teufel Fliegen und ich Getreide. Nachdem ich mir endlich den Bauch vollgeschlagen habe – hat übrigens toll geschmeckt dieses Getreide -, mache ich mich auf die Suche nach dem Bad. Da ich immer noch auf allen vieren unterwegs bin, stimmen die Größenverhältnisse nicht ganz und ich habe Schwierigkeiten, mich in meiner eigenen Wohnung zu orientieren.
Autsch!! Was war denn das? Ich bin gerade mit meiner Nase gegen irgendetwas gestoßen. Als sich meine Augen neu scharf stellen, bemerke ich, dass ich gegen Gitterstäbe gelaufen bin. Schön langsam beschleicht mich das Gefühl, dass der Hamsterkörper vielleicht doch keine optische Täuschung, sondern Wirklichkeit ist. Bin ich tatsächlich in einem Hamsterkörper gefangen? Sitze ich hier in einem Käfig? Meine Gedanken sind jetzt noch verrückter als zuvor, so sehr ich mich aber auch bemühe, mich zu konzentrieren und meine Situation zu reflektieren, um Lösungen zu finden, so sehr merke ich, wie meine Fähigkeit zu abstraktem Denken abnimmt. Die Suche nach dem Bad habe ich mittlerweile aufgegeben, denn was macht es für einen Sinn, in einem Hamsterkäfig nach einem Bad zu suchen. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, meinen Käfig zu erforschen. Vielleicht gibt es ja irgendwo eine Schwachstelle, an der ich hinauskann.
Als ich eine Runde drehe, entdecke ich an einer Stelle ein Hamsterrad. Vorsichtig steige ich mit meinen vier Pfoten in das Laufrad hinein und beginne ganz vorsichtig und zaghaft, eine Pfote vor die andere zu setzen. Auch wenn ich es nie für möglich gehalten habe, aber das Laufen mit vier Pfoten ist eine echte Herausforderung. Es erfordert meine ganze Konzentration, dass ich mich auf dem Hamsterrad halbwegs sicher bewege. Eine Pfote vor die andere, die Hinterpfoten nicht vergessen. Langsam, ganz langsam beginnt sich das Rad zu drehen.
Nachdem es am Beginn eigentlich ganz gut funktioniert hat, wird mir das Laufrad dann doch etwas zu schnell und ich komme mit den Pfoten nicht mehr hinterher. Unsanft schlage ich eine Rolle vorwärts, lande auf dem Rücken und für einen Moment bleibt mir sogar die Luft weg. Nachdem ich mich vom Schock des Sturzes wieder so halbwegs erholt habe, bemerke ich, dass ich mich an der Vorderpfote leicht verletzt habe. Ein paar Tropfen Blut fallen auf den Boden des Käfigs.
Die Faszination des Hamsterrades lässt mich allerdings nur kurz los. Wenn man abgeworfen wird, muss man schließlich wieder aufsteigen und es erneut versuchen. Gesagt, getan, bin ich schon wieder auf dem Laufrad. Es klappt schon viel besser. In einigen Minuten mutiere ich vom Anfänger zum absoluten Profi! Die Koordination meiner Vorder- und Hinterbeine macht mir gar nichts mehr aus und klappt hervorragend. Immer schneller laufe ich nun vor mich her.
Irgendwann überkommt mich dann doch das Gefühl einer gewissen Sinnlosigkeit meines Tuns. Immer nur in diesem Hamsterrad zu laufen, eine Pfote vor die andere zu setzen, scheint mir nicht allzu sinnvoll zu sein. Allmählich beginne ich langsamer zu werden. Doch halt, was soll das, da gibt es plötzlich einen Impuls in meinem Gehirn, der zu mir sagt: “Du musst weiterlaufen! Immer schneller!” Aber damit Laufen Sinn macht, brauche ich doch ein Ziel, auf das ich zusteuern kann, setze ich dem Impuls entgegen.
“Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Unbewusst, fast wie ferngesteuert werde ich wieder schneller in meinem Laufrad. Eine Pfote vor die andere, die Vorder- und Hinterbeine gut koordinieren, damit kein Unglück passiert. Ein Sturz reicht schließlich. Wer weiß, ob der nächste wieder so glimpflich ausgehen würde. “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” hämmert es wieder in meinem Gehirn. Ich kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Alleine beim Versuch bekomme ich schon Kopfschmerzen. “Immer schneller! Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen!”
Ich versuche meine ganze Willenskraft zusammenzunehmen, um gegen den Impuls anzukämpfen. Doch wirklich ausrichten kann ich nichts dagegen. Wie will man denn schließlich auch gegen das eigene Gehirn streiten? “Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen! Immer schneller!” Immer wieder stelle ich die Frage nach dem Sinn dessen, was ich hier tue, doch die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: “Weiterlaufen!” – “Ich will nicht!” schreie ich mit voller Kraft hinaus und bleibe einfach stehen. Keine Pfote mehr vor die andere, einfach stehenbleiben. Peng! krache ich mit der Nase gegen den Boden und werde gleich wieder durch die Luft geschleudert. Leicht benommen bleibe ich einfach einmal liegen.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gelegen habe, aber die Stimme hämmert immer noch in meinem Kopf: “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Ganz langsam raffe ich mich wieder auf. Der Sturz hat mich doch ein ganzes Stück von diesem Teufelszeug namens Hamsterrad wegkatapultiert. Ich muss bloß aufpassen, dass ich ihm nicht zu nahe komme. Zum Teufel mit “wieder aufsteigen” und wie die Sprichwörter alle heißen. Ich will einfach nicht mehr!
Jetzt hole ich mir erst einmal etwas zu futtern. Ist zwar nur Körnerfutter, aber das Laufen macht ganz schön müde und vor allem hungrig. Vielleicht komme ich ja beim Essen auf andere Gedanken. Für einen Moment oder so scheint es auch tatsächlich zu funktionieren. Aber so bald ich einige Bissen gegessen habe, meldet sich wieder die Stimme in meinem Kopf: “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Wie von einem riesigen Magneten angezogen, lande ich auf meinem Weg viel zu schnell wieder beim Hamsterrad. “Ich will nicht!!” – “Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen! Immer schneller!”
Eh ich mich versehe, stehe ich schon wieder in meinem Laufrad und beginne langsam eine Pfote vor die andere zu setzen. “Immer schneller! Du musst weiterlaufen! Nicht aufhören!” Ganz automatisch werden meine Bewegungen immer schneller und nach nur wenigen Umdrehungen des Rades bin ich wieder auf voller Geschwindigkeit. Kann man mit diesem Ding nicht einfach langsamer gehen? Scheinbar nicht! “Immer schneller! Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen!” Kann bitte irgendjemand dieses Tonband in meinem Gehirn ausschalten!! Ich halte das einfach nicht mehr aus.
Fast hätte ich schon vergessen, dass ich ja eigentlich gar kein Hamster bin, sondern ein Mensch. Stimmt doch, oder? Eigentlich muss es heißen ein Mensch war! “Nicht aufhören!” – Verdammt! – “Du musst weiterlaufen! Immer schneller!” – Ich kann ja nicht mehr! Wenn diese Stimme in meinem Kopf nicht bald verstummt, dann passiert irgendein Unglück. Meine Beine werden immer schwerer und die Koordination zwischen Vorder- und Hinterbeinen wird immer schwieriger. Ich muss mich voll auf das Laufen konzentrieren. “Immer schneller! Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen!” – Klappe halten! Ich geh noch drauf, wenn diese Stimme nicht endlich Ruhe gibt!
Langsam merke ich, dass es an den Fenstern schon zu dämmern beginnt. Endlich wird die Stimme in meinem Kopf leiser. Dieses Mal höre ich aber nicht einfach mit dem Laufen auf, sondern werde zunächst langsamer, bis ich schließlich das Laufrad so weit abgebremst habe, dass ich gefahrlos aussteigen kann. Müde und geschlaucht mache ich mich auf die Suche nach einem Schlafplatz. Ich denke einmal, Bett werde ich wohl keines finden in meinem Käfig. Doch das macht eigentlich gar nichts, denn ich bin derart müde, dass ich auf der Stelle einschlafe, egal wo ich mich gerade aufhalte.
Eine Woche später im Hamsterrad
Eigentlich ist es noch dunkel, als ich munter werde. Doch eigenartig, ich bin auch nicht wirklich müde, sondern fühle mich ziemlich ausgeschlafen. Mittlerweile habe ich mich auch daran gewöhnt, dass mein Leben das eines Hamsters geworden ist. Auch wenn es mir schwer fällt, aber ich muss mich wohl von meiner menschlichen Natur verabschieden.
An vieles habe ich mich mittlerweile gewöhnt in meinem neuen Hamsterleben. Manchmal gelingt es mir sogar, für einen kurzen Moment die Stimme in meinem Kopf zu ignorieren. “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Doch heute ist es irgendwie wieder besonders schlimm. Schon bevor ich mir etwas zum Frühstück holen kann, zieht es mich hin zum Hamsterrad. “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Noch bevor ich irgendwie darauf reagieren kann, stehe ich schon wieder auf dem Laufrad und es beginnt sich zu drehen. “Immer schneller! Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen!” Mittlerweile macht mir die Beinkoordination keine Schwierigkeiten mehr und ich brauche dafür kaum noch Konzentration aufzuwenden. Daher gelingt es mir, noch einige Umdrehungen mehr aus dem Laufrad herauszuholen. “Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen! Immer schneller!”
So sehr ich mich auch bemühe, immer wieder überkommt mich heute die Sehnsucht, wieder ein Mensch zu sein. Das Hamsterleben ist mir einfach zu monoton, immer nur futtern und laufen, immer nur funktionieren, ohne wirklich einen Sinn darin zu sehen. “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” – Was soll das eigentlich? Jetzt ist es schon eine Woche her, dass ich als Hamster aufgewacht bin, eine Woche Laufen im Hamsterrad, eine Woche gefangen in einem Käfig, eine Woche diese nervtötende Stimme in meinem Kopf “Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen! Immer schneller!” Autsch – das hat jetzt weh getan! Mir sind schon wieder meine Pfoten durcheinander gekommen und ich bin mit dem Rücken voran mit voller Wucht auf die gegenüberliegende Seite des Hamsterrades gekracht.
Einen kurzen Moment bekomme ich keine Luft und ich liege benommen am Boden. “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” tönt die Stimme wieder in meinem Kopf. Als ich versuche mich wieder aufzurichten, versagen mir meine Vorderpfoten den Dienst und ich lande auf der Schnauze. Autsch, ich will nicht mehr!! Hat doch eigentlich alles keinen Sinn mehr.
In mir steigt schön langsam ein beklemmender Gedanke hoch: “Immer schneller! Nicht aufhören! Du musst weiterlaufen!” – Nein, diesmal nicht dieser, sondern ein anderer Gedanke kommt mir immer öfter in den Sinn: “Wie schön wäre es doch, wenn alles vorbei wäre!! Einfach nur einschlafen und nie wieder munter werden.” Ein wunderbarer Gedanke, auch wenn ich ihn gleich wieder verstoße, denn so etwas darf man doch schließlich nicht einmal denken. Wo habe ich denn bloß meine christliche Erziehung gelassen?
Aber der Gedanke, dass alles vorbei ist, der Gedanke, nie wieder aufzuwachen, hat etwas ungemein Tröstendes. Was ist eigentlich so schlimm an diesem Gedanken? Mich würde doch sowieso niemand vermissen. Ich weiß nicht, ob überhaupt irgendjemand davon Notiz nimmt, wenn ich nicht mehr da bin. Würde ich jemandem fehlen? Natürlich ist da jemand, der jeden Tag meinen Käfig sauber macht und mir zu fressen gibt, aber ich glaube, wenn es mich nicht mehr gibt, erspare ich ihm jede Menge Ärger und Arbeit.
Warum also soll ich weiterleben? “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” – Klappe, ich bin gerade in Gedanken! Ich glaube, es ist besser, wenn es mich nicht mehr gibt, für die Welt und für mich sowieso. Was hat das ganze denn schon für einen Sinn? Ich werde mich jetzt auf die Suche machen, ob ich irgendwo etwas finde, an dem ich mich aufhängen kann. Dann ist endlich alles aus! “Du musst weiterlaufen! Immer schneller! Nicht aufhören!” Wenn auch schon etwas leiser, höre ich diese Stimme immer noch. Aber der Gedanke, alles zu beenden, hilft mir, diese nervtötende Stimme unter Kontrolle zu halten.
Aber wie stelle ich das an, wenn ich in diesem verdammten Hamsterkäfig sitze? Vielleicht könnte ich mich ja vom Hamsterrad herunterfallen lassen, von ganz oben? Ich krabble am Käfiggitter hoch, bis ich schließlich oben auf dem Rad stehe. Nicht wirklich hoch, aber vielleicht klappt es ja. Einfach mit dem Kopf voran hinunterspringen. Autsch!! Das hat weh getan, aber ich spüre immer noch etwas, einzig das Riechen ist ein wenig eingeschränkt, ansonsten nicht wirklich was passiert. Ich muss mir etwas anderes suchen. “Nicht aufhören!” – Klappe, ich bin beschäftigt! Nach einigen Minuten herumirren im Käfig muss ich doch eingestehen, dass es in einem Käfig gar nicht so leicht ist, sich das Leben zu nehmen.
Ich könnte doch einfach ins Hamsterrad steigen, laufen, so schnell ich kann, und dann abrupt stehenbleiben. Gesagt, getan!! – Autsch!! – Autsch!! – Ich spüre immer noch was, scheiße! Nach dem Aufprall auf der Gegenseite des Hamsterrades wurde ich durch die Luft geschleudert und bin ziemlich hart aufgeschlagen. Hat zwar weh getan, aber ich habe es leider wieder überlebt. Mist! Bin ich schon zu blöd, mich einfach umzubringen. Das kann doch nicht so schwer sein! Ein zweiter Versuch mit dem Hamsterrad brachte ein ähnliches Ergebnis, außer dass ich mir zusätzlich noch meine Hinterpfote deftig verstaucht habe.
Ich gebe auf, ich werde einfach nichts mehr fressen und trinken, dann werde ich irgendwann einmal verdursten oder verhungern! Ich werde mich jetzt in eine Ecke verkriechen und so lange schlafen, bis ich verdurstet bin. Habe ja heute sowieso noch nichts gefuttert oder getrunken. Ich habe ziemlichen Durst.
Vielleicht sollte ich doch noch einmal etwas trinken, bevor ich mich hinlege, um zu sterben? – Weichei!! Nichts da, jetzt wird gefälligst gestorben, sonst wird das ja nie was. Doch irgendwie kann ich nicht einschlafen. Mein Magen knurrt und mein Mund ist ganz ausgetrocknet. Ich muss stark sein. Ich werde nichts futtern und nichts trinken! “Du musst weiterlaufen!” – Klappe, ich möchte schlafen, einfach nur schlafen, für immer schlafen und nie mehr aufwachen. Obwohl es noch hell draußen ist, ziehe ich mich in eine dunkle Ecke in meinem Käfig zurück. Dunkle Wolken versperren zwar der Sonne die Sicht, aber für mich ist es immer noch viel zu hell.
In meinem Kopf sind auch viele dunkle Wolken, eigentlich fühle ich mich einsam und verlassen. Niemand mag mich, niemandem bedeutet mein Leben, bedeute ich irgendetwas. Deshalb macht es auch gar keinen Sinn, weiterzuleben. Alles ist sinnlos. Ich habe einfach keine Kraft mehr weiter zu kämpfen, keine Kraft mehr. Ich bin müde, ganz müde und will einfach nur schlafen. Der Schlaf wird mich vom Leben erlösen und mich ganz frei machen. Frei für immer. Ich habe nie geglaubt, dass ich mich eines Tages sogar darauf freue, zu sterben, das Leben auszuhauchen, befreit von der Last des Lebens, für immer.
Was ist bloß aus meinem Leben geworden? Irgendwann einmal hatte ich Träume, wollte die Welt zu einer besseren machen, aber das ist lange vorbei. Ich dachte mir, wenn ich nur hart genug arbeite, immer 150 Prozent gebe, dann werden mich die Menschen doch beachten, respektieren, vielleicht finde ich dann ja sogar irgendwo jemanden, dem ich etwas bedeute. Aber jetzt, nicht einmal mehr als Mensch, sondern als Hamster ganz alleine liege ich hier in dieser Ecke und bereite mich darauf vor, diese Welt für immer zu verlassen.
Schön langsam beginnen mir die Augen zuzufallen. Bald wird es vorbeisein. Bald werde ich für immer schlafen. Meine Kraft schwindet langsam. Noch einmal öffne ich mit meiner ganzen Kraft die Augen und sehe, wie es draußen langsam Abend wird. Die Abendstimmung mit den dunklen Wolken am Himmel passt gut zu dem Weg, der vor mir liegt. Ein letzter Blick in die Welt, die mir nichts mehr bedeutet, die vielleicht niemals wirklich die meine war und dann ein letztes “Adieu!” Langsam, ganz langsam schließe ich ein letztes Mal meine Augen und mache mich auf meine letzte Reise. Ich werde frei sein, frei vom Leben, frei, einfach nur frei. In tiefer Zufriedenheit, dass es endlich vollbracht ist, gleite ich hinüber vom Leben zum Tod, zum Tod, nach dem ich mich so sehr sehne, denn nur in ihm finde ich wirklich die volle Freiheit und den letzten Frieden.