Die Freiheit der Kunst gilt zu Recht als eine große Errungenschaft westlicher Demokratien. Doch gibt es auch Grenzen dieser Freiheit? Darf ich im Namen der Kunst plötzlich alles tun und zeigen? Bedeutet eine Freiheit der Kunst wirklich automatisch einen maximalen Voyeurismus? Für mich bedeutet die Freiheit der Kunst auch eine Verantwortung, eine Verantwortung für die Gesellschaft und die Menschen mit denen sie in Kontakt tritt.
Anlass: Gebährende Madonna als Freiheit der Kunst
Vor etwas mehr als einer Woche wurde im Mariendom zu Linz eine Statue ausgestellt. Sie zeigt den Geburtsvorgang Jesu. Konkret ist der behaarte Kopf des Kindes zu sehen, wie er aus Maria heraustritt. Ich möchte die Beschreibung hier auch dabei belassen, um nicht in jenen Voyeurismus zu verfallen, den ich ja auf der anderen Seite kritisiere.
Ort der Skulptur
Als Ort wurde ein Seitenraum des Domes gewählt, der speziell für den Dialog mit der Kunst von heute vorgesehen ist. Es ist also nicht so, dass ich – wenn ich als Beter den Dom betrete zufällig bei dieser Skulptur vorbeikomme. Ich muss mich schon speziell dafür interessieren und daher diesen Seitenraum betreten.
Trotzdem bleibt es innerhalb der Kirche, also eines Gotteshauses. Darf ich mich als „Gläubiger“, der ein Gotteshaus betritt, so weit sicher fühlen, dass meine religiösen Gefühle nicht über Gebühr verletzt werden, weil jemand anderer seine Freiheit der Kunst in jedem Raum präsentieren darf? Oder muss ich mich den Strömungen der Welt immer und überall ausgesetzt wissen?
Freiheit der Kunst und Freiheit der Religionsausübung
Es gibt neben der Freiheit der Kunst in unserem Staatsgrundgesetz auch die Freiheit der Religionsausübung. Dazu braucht es in unserer Gesellschaft gewisse Räume, die wir im Christentum gemeinhin als Kirchen bezeichnen. Sie sind Orte, an denen Menschen entweder gemeinsam oder alleine ihren Glauben leben können. Diese Orte brauchen meines Erachtens auch einen gewissen Schutz. Den selben Schutz braucht es wohl auch für Synagogen (Judentum) und Moscheen (Islam) oder Gotteshäuser anderer Religionen.
Dieser Schutz bezieht sich darauf, was in solchen Kirchen zu finden ist. Die Kunst hat hier eine ganz wichtige Rolle, muss sich allerdings in diesem Rahmen der Religionsausübung beugen. Im Übrigen würde sich doch wohl jeder Galeriebesitzer mit Recht dagegen wehren, wenn ich als Priester gemeinsam mit fünf Personen beginne, in der Galerie eine Eucharistiefeier zu feiern und mich dabei auf das Recht der freien Religionsausübung berufe.
Genau so möchte ich in Kirchen beim Gebet oder beim Gottesdienst auch vor parteipolitischer Propaganda geschützt sein. Ein Wahlplakat in einer Kirche vor den Altar zu stellen, ist auch nicht passend, egal von welcher Partei.
Die geköpfte Madonna oder Wert religiöser Gefühle
Irgendjemand fühlte sich von dieser Skulptur in den religiösen Gefühlen derart verletzt, dass er der Madonna den Kopf abgesägt hat. Nun sind wieder die Psychoanalytiker am Werk und versuchen diese Handlung zu interpretieren. Welche schlimmen Erfahrungen der Täter/die Täterin wohl mit Frauen gemacht haben muss, dass er/sie zu solch einer Tat in der Lage sei.
Wenn ich in die Geschichte der vergangenen 30 oder 40 Jahre blicke, dann fallen einige Tendenzen auf. Eine selbst ernannte Bildungselite testet aus, wie weit man die religiösen Gefühle „der einfachen Menschen“ provozieren und treiben kann, ohne dass etwas Schlimmes dabei passiert. Dieses Spiel halte ich für hochgradig problematisch. Ich möchte in keinster Weise den/die Täter/in entschuldigen, der/die hier mit der Säge ausgerückt ist. Aber kann ich die Künstlerin oder die Verantwortlichen, die diese Skulptur aufstellten, so einfach aus jeder Verantwortung entlassen? Mussten sie nicht damit rechnen, dass eine solche bewusste Provokation eine Gegenreaktion auslösen würde? Laut Interviews haben sie das ja sogar, denn sie wollten ja provozieren, nur eben eine andere Reaktion.
Doch wenn ich Menschen in ihrem Wesen angreife, dann darf mich keine Reaktion überraschen. Wenn ich die religiösen Gefühle von Menschen und damit deren Interpretation der Welt und ihres gesamten Lebens in Frage stelle und attackiere, dann bin ich froh, dass der/die Täter/in nur eine Säge genommen hat und nur eine Skulptur zerstörte. Was wäre wohl gewesen wenn aus der Säge eine Feuerwaffe und aus der Skulptur unschuldige Gottesdienstbesucher/innen geworden wären? Was würden wir dann heute über Verantwortung sagen und wie es den Familien eventueller Opfer erklären?
Wer nun meint, das wäre so weit hergeholt, dem möchte ich nur den 11. September 2001 in Erinnerung rufen. Auch dort handelten Menschen, weil zuvor heiliger Boden bei Mekka durch GI der US Army „geschändet wurde“. Denken wir an Salman Rushdie und sein Werk „Die satanischen Verse“, die genau die religiösen von Millionen von Menschen zum Inhalt haben, oder die Anschläge in Paris als Antwort auf die Mohammed Satire.
Wie weit dürfen wir die religiösen Gefühle von Menschen stoßen, um zu sehen, wann sie ausrasten? Welchem Zweck dienen diese Provokationen? Wer die Freiheit der Kunst einfordert (und dafür gibt es sehr gute Gründe) muss auch bereit sein, die Verantwortung für sein Handeln und künstlerisches Schaffen zu übernehmen.
Lieber Andy
Ich will jetzt gar nicht auf die verschiedenen Argumente eingehen, die dafür sprechen, dass diese Statue im Dom ausgestellt wird, etwa auf den Widerspruch warum die Darstellung der gebärenden Maria obszön, voyeuristisch und entwürdigen sein soll, die Darstellung des im Todeskampf am Kreuz hängenden Jesus aber nicht. Aber das wurde schon zur Genüge an anderer Stelle getan.
Der letzte Teil deines Kommentars beinhaltet eine sehr problematische Täter-Opfer-Umkehr. So nach dem Motto „De host da oba obeddlt“, wenn Eltern ihr Kind schlagen. Die Schuld und die Verantwortung bei Anschlägen liegt ganz allein bei den Tätern. Menschen haben schon viel geringeren Gründen Amokläufe, Mordanschläge oder Zerstörungen begangen. Hatten die Nachbarn des Doppelmörders von Stiwoll eine Mitverantwortung für ihre Ermordung, weil sie vielleicht den Nachbarschaftsstreit so eskalieren haben lassen?
Abschließend, nachdem ich selbst als Musiker und Autor Künstler bin: Ich wurde auch schon für manche meiner Texte und Lieder kritisiert, sie wären beleidigend. Das war nie meine Absicht beim Verfassen der Texte bzw. Songs. Wenn ich mir nun beim Song- oder Kurzgeschichtenschreiben darüber Gedanken machen müsste, wen ich damit eventuell beleidigen könnte, dann kann ich meine Musik und Texte gleich sein lassen. Denn irgendwer ist immer dabei, der sich von irgendwas beleidigt oder provoziert fühlt. Wenn das der Anspruch an Kunst wird: nur nicht anecken, wer weiß, wer dadurch zu was getriggert werden könnte, dann bleibt nur noch belanglose Gefälligkeitskunst übrig. Dann können wir den Kunstbetrieb auch gleich einstellen.
LG Andy Haider
Lieber Andy!
Herzlichen Dank für Deinen Kommentar!
Eine Täter-Opfer-Umkehr lass ich aber nicht gelten. Es ist wohl hoffentlich klar, dass weder das Absägen des Kopfes noch diverse Anschläge in irgendeiner Weise gerechtfertigt seien. Schreibe ich so aber auch im Text. Wobei sich beim Absägen des Kopfes noch einmal fragen ließe, ob es sich nicht hierbei noch einmal um Kunst handelt; nicht so wie von der Künstlerin intendiert aber nichtsdestoweniger. Aber OK, man zerstört keine fremden Kunstwerke, das weiß ich schon.
Ich habe nur in vielen Gesprächen mit Menschen die Hilflosigkeit festgestellt, die aus ihrer Verzweiflung sprach, dass mit ihrer Religion so verfahren werde. „Sollte uns ein guter Hirte als Bischof vor solchen Statuen beschützen, nun stellt er sie in die eigene Kirche?“ — „Ich kann ja nur aus der Kirche austreten. Vielleicht merken die da oben dann, wenn alle austreten und ihnen das Geld fehlt, wie falsch sie liegen!“ — „Das ist nicht mehr meine Kirche, mit der will ich nichts zu tun haben!“ — „Sag uns, was sollen wir tun! Wir wissen, dass wir etwas tun müssen, aber wir wissen nicht was!“ — „Ich habe eine Petition unterschrieben, aber werde vom Bischof doch nur verlacht dafür. Was soll ich noch machen?“
Um nur einen kleinen Ausschnitt dessen wiederzugeben, was ich in der vergangenen Woche von Menschen gehört habe. Diese Menschen mögen keine theologische Ausbildung haben, vielleicht niemals Thomas von Aquin gelesen haben, aber die haben ihr Leben lang dafür bezahlt, dass ich heute die Kirche kenne, die haben ihr Leben versucht, ein gutes Leben zu führen.
Die Initiator/innen des Projektes behaupten, sie wollten mit den Menschen in Kontakt treten, zum Dialog auffordern. Doch vor der Skulptur im Dom stehe ich alleine, niemand da, um in Kontakt zu treten. Wollen sie das wirklich? Dann gibt es dafür Möglichkeiten. Wordcloud, X, … Andy, wir wissen beide, wie viele Möglichkeiten es gibt, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn ich als Veranstalter das wirklich will, dann geht das. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, dass wir nur mit Rauchzeichen kommunizieren können. Das moderne Internet – hört sich komisch an der Ausdruck – bietet die Möglichkeiten dazu, man muss es nur wollen.
Nur dann müsste ich mich als Veranstalter ja mit diesen Kommentaren auseinandersetzen und wirklich in Kontakt treten, nicht nur so tun als ob.
Lieber Andy, wenn Du mit Deinen Liedern auftrittst, dann gibt es eine unmittelbare Feedback Schleife (Applaus oder Buh Rufe). Das zweite bei Dir wahrscheinlich nur theoretisch. Diesem Feedback stellst Du Dich in dem Moment, wo Du die Bühne betrittst. Das gleiche gilt etwas abgeschwächt auch für meine Predigten. Da funktioniert das Feedback nur etwas anders.
Ich sehe das Problem im vorliegenden Fall nur etwas anders: Menschen war klar: Das ist eine Provokation und das ist auch gut so. Wenn ich mir darüber im Klaren kann ich mich als Künstler dafür entscheiden, den Weg weiterzugehen, werde mir aber überlegen, was machen die Menschen mit ihrer Provokation. Welchen Zweck hat die Provokation? Das meine ich mit der Verantwortung bei der Freiheit.
Liebe Grüße!
Andy